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Forum Geschichte

Mädchen von weitem Feld

Dr. Rim Sabrina Sarkar

Übersetung: Dr. Hossain Abdul Hai

Bearbeitung: Anke Sultan

Ich springe im letzten Moment auf und erwische den Bus. Eine ausgestreckte Hand von drinnen zieht mich schnell herein, sonst wäre ich schon zwischen den Bustüren eingequetscht gewesen. Der Sensor scheint nicht zu funktionieren und der Fahrer macht ein langes Gesicht, wenn sich jemand darüber beschwert. Zusätzlich wirft er noch ein paar deutsche Schimpfwörter in meine Richtung.

Ich schaue mich nach dem ersten Schrecken herum, um der Person zu danken. Aber sie war schon im Bus verschwunden. Ich schlucke meine Danksagung herunter und hänge wie eine Fledermaus im Gedränge der Passagiere. Meetings um 8:30 Uhr montags sind sehr anstrengend. Jedesmal hoffe ich, dass ich pünktlich ankomme. Meine Augen schweifen immer wieder auf das Handgelenk, wo ich meine Armbanduhr sein sollte.

„Du hast aber keine Uhr, was guckst du denn aber da?“ Ich schmunzle peinlich und schüttle den Kopf. Es ist zwei Wochen her, seit meine Uhr kaputt ist. Aber ich gucke immer noch aus der Gewohnheit an mein Handgelenk. ,,Ist alles Ok? Es hat dir aber nicht weh getan, oder?“

Aha, war das nicht die Person mit der ausgetreckten Hand? Bevor ich zu Ende denken kann, kommt die Hand wieder hervor. ,,Habe ich dich nicht zu stark gezogen oder? Hallo, ich bin Jiessel.“ Ich schaue auf und sehe ein Mädchen mit einer sehr authentischen bengalischen Gesichtsform. Die Kombination von langem Zopf mit schwarzen Haaren mit hellgebräunter Hautfarbe lässt diese Illusion aufkommen. Mir scheint sie könnte Farzana oder Farhana heißen. Der ausländische Name wie Jiessel passt ihr überhaupt nicht zu ihr!

Einige steigen an der nächsten Haltestelle aus. Dazwischen fasst Jissel meine Hand an und setzt mich auf einen leeren Sitz. Ich merke, dass dieses Mädchen oft nach meinen Händen greift. Ich will das Unbehagen verbergen und das Gespräch mit einem trockenen, höflichen Lächeln beenden. Aber das war erst der Anfang. „Ich habe dich bei einem Seminar am Institut gesehen. Arbeitest du in dem Labor von xyz?“ Ich nickte, um sie loszuwerden. Der riesige Helmholtz-Campus befindet sich am Stadtrand von München. Hier gibt es zahlreiche Abteilungen und Labors. Aber sie wusste trotzdem, in welchem Labor ich genau arbeite. Das bedeutet, sie kennt mich schon vom Sehen. Aber, warum und wozu?

Der Bus hält an meinem Ziel. Gewohnheitsmäßig guckte ich wieder auf mein leeres Handgelenk, bekomme Panik und mache mich dann schnell auf dem Weg. Wenn ich laufe, kann ich meine Strecke auf fünf Minuten verkürzen. Jiessel fragt von hinten: „Hey, du hast aber deinen Name nicht gesagt?“ Herumrennend, antworte ich ohne Punkt und Komma: „Sabrina-Meeting-Sorry-wir sprechen später…“. Der Rest löst sich in Luft auf.

Nächste Woche.

,,Letztens bist du so schnell weggelaufen! Aus welchem Land kommst du? Äthiopien-Somalia? Von dort rennen alle aber sehr gut auf der Olympiade.“ Mit einem breiten Lächeln scherzt Jiessel mit mir. Sie spricht weiter: „Du siehst echt wie eine Äthiopierin aus“. Ich antworte unaufgeregt, „hätte ich wie äthiopische Mädchen ausgesehen, hätten die äthiopische Jungen dann aber Pech.“ Sie bricht in Gelächter aus, „Ups, Sabrina, du bist aber lustig. Sind die Jungen in deinem Land auch so wie du?“

Ich antworte in einem ähnlich gleichgültigen Ton: Sie sind so. Fällst du einmal in die Hände von Jungs aus Bangladesch, ist dein Leben verdorben.“ Jiessel geriet nicht in Panik, sondern sagte: „Ich bin ein Mädchen aus Honduras, ich habe vor keinem Jungen Angst. Ich könnte ihre Köpfe abreisen…“ Ich versuche mir vorzustellen, wie meine Brüder in den Händen des mächtigen Mädchens aus Honduras um Hilfe rufen! Was gäbe das für ein absonderliches Bild ab! Ah!

Es dauert nicht lange, bis das Kennenlernen durch Lachen und Witzen erstarrt. Irgendetwas bei Jiessel ist einzigartig. Mit ihren Worten und Gelächter fällt sie auf. Seitdem ich in Deutschland bin, habe ich in den letzten Monaten kaum Freundschaften gemacht. Mein Charakter eignet sich auch nicht als Partygirl. Ich vergaß schon fast die Freude, die man nach dem Austausch mit jemandem hat. Nach vielen Tagen wurde nun das geschlossene Fenster des Geistes geöffnet und ein Windstoß weht herein.

Wir vereinbarten, dass wir uns in der Kantine zu einem Mittagsessen treffen. Dort können wir uns länger unterhalten. Beim Verabschieden drehte Jiessel theatralisch dreimal die Hand und sagte: „Auf Wiedersehen! Bis dahin! Und besorge für mich einen Jungen aus deinem Land. Groß, dunkel, gutaussehend, hahaha….“ Als Antwort zwinkere ich wie ein vollkommener Schlepper und gebe eine gespielte Zusicherung: „Mache ich. Es ist ganz einfach.“

Im Labor läuft ein Experiment nach dem anderen. Ich habe keine Zeit mehr mit Jiessel zum Mittagessen zu gehen. Ab und zu sehen wir uns auf dem Weg, tauschen ein paar Wörter aus und das ist alles. An einem Tag, die Zeit ist schon sehr knapp, taucht plötzlich Jiessel neben mir, an einem riesigen Feld nahe der Bushaltestelle, auf . Das sogenannte ,,Weitem Feld“. Ich bin am Laufen. Sie läuft mit gleichem Tempo und fragt mich: „Warum hast du bei -5 Grad Sandalen an?“ Ich schaue auf meine Füße und fühle mich beschämt. Ich habe nur Sandalen über dünne Socken an. Das gestrige lauwarme Wetter mit 18 Grad ist heute unter null Grad gefallen. Die jungen Gräser sind komplett mit Schnee bedeckt. Die Straußenkrähen jagen Maina-Vögel und Spatzen und ziehen umher. Mit dem letzten Aufbäumen des Winters entweicht der Frühling. Wer hätte gedacht, dass das deutsche Wetter im April so verrückt sein würde.

Nicht nur das Wetter, auch das Mädchen Jiessel ist fast verrückt. Nach einem kurzen Augenblick klopft sie mit ihren Stiefeln und schlägt vor: „Möchtest du eine Wette? Mal sehen, wer zuerst den Laternenpfahl auf der anderen Seite des Feldes erreicht. Rutschige Sandalen gegen Winterstiefel. Eins, zwei, drei…bevor ich etwas sagen konnte, rennt Jiessel über die Wiesen. Der rote Schal flattert frech im frostigen Wind. Ich ziehe meine Mütze fest und renne hinter ihr her, um die Wette zu gewinnen. Zwei Prinzessinnen aus zwei Länder laufen durch den weißen Schnee wie Baumwolle. Wer gewinnt, wird die neue Königin dieses neuen Schneereichs. Verwundert schaue ich Jiessel an, während ich weiterlaufe. Das Mädchen ist einer Weise wahnsinnig mit ihrer einzigartigen Jungenhaftigkeit. Das befreiende Kichern breitet sich allmählich im Äther der weißen Wiese aus.

Anstatt Freunde zu sein, bin ich nun ihr Fan geworden. Die Nachrichten vom Campus drehen sich um die Großleinwand der Mensa und Jiessel’s Bilder tauchen darin fast jeden Tag auf. Manchmal erhält sie Preise bei Konferenzen, manchmal winkt sie mit ihren Händen als Gewinnerin der Studentenwahl. Sie ist die stürmische Herrin auf dem Campus. Jeder kennt sie unter ihrem Namen und jeder könnte ihr Fan sein.

Immer wieder taucht Jiessel direkt auf der Bildfläche auf, so auch an einem späten Nachmittag im Mittherbst. Auf dem Campus läuft das Grillfest. Im ganzen Sommer hatten wir kein Grillfest und jetzt dafür fast im Winter. Aber die Atmosphäre ist entspannt, nicht mit wilden Jugendlichen, wie wir öfter in Hollywood-Filmen sehen. Die Studenten verteilen sich auf der Wiese mit gegrillten Würstchen auf Papptellern und Bier in Plastikbechern. Sie unterhalten sich leise miteinander. Ich habe Butter auf einem gerösteten Mais aufgestrichen und erst einmal reingebissen. Der volle Geschmack schmilzt auf der Zunge. Plötzlich fiel mir jemand um die Schulter. „Hey! Was isst du da versteckt in der Ecke? Wolltest du nur essen oder auch sprechen?“ Ich blickte auf und sah Jiessel. Sie sieht so sanft aus, wie das Licht der untergehenden Sonne in ihrem langen, orangefarbenen Kleid. Sie bricht in schallendes Gelächter aus und zieht mich aus dem Gras.

„Im nächsten November gibt es ein Science-Slam. Ich bin dabei. Du musst kommen.“ Ich nickte schon, ohne zu verstehen was dieser Science-Slam ist. „Jiessel, sag mal bitte, wie schaffst du es so viel zu erledigen? Siehe mich! Nach dem Labor von morgens bis zum Abend habe ich keine Energie mehr, puh!“

Mit einem Fingerschnippen antwortet sie, „Glaubst du, dass ich so weit aus dem Land gekommen bin, nur um einen Abschluss zu machen? Ich bin hier zu gewinnen. Ich werde meinen Namen für alle Wettbewerbe und Konferenzen eintragen. Es spielt keine Rolle, ob ich gewinne oder verliere. Aber es fühlt sich gut an, zu kämpfen.“ Ihre Aussage gefällt mir. In ihren Worten steckt zu viele Beherztheit, der sogar der Bierkrug auf dem Tisch nicht widersteht.

Ich komme genau um halb fünf Uhr an. Der größte Seminarsaal auf dem Campus. Die Sitze steigen Reihe für Reihe in Form des Kolosseums. Das Science-Slam-Event fängt gleich an. Rot-blaue Disco-lichter sind installiert. Alles ist sehr hübsch ausgestattet. Der erste Kandidat kam. Das Vorspiel ist schwierig. Innerhalb von zehn Minuten muss das komplexe Thema eigener Forschung in kinderleichter Sprache erzählt werden. Und die Vorstellung soll auch humorvoll sein.

An dem Humor mangelt es nicht. Nacheinander verzaubern alle mit fabelhaften Präsentationen. Nach drei Darstellern kam endlich Jiessel. Mit der Titelmusik von Mission Impossible im Hintergrund beginnt sie zu erzählen. Durch ihre selbstbewusste und artikulierte Präsentation lässt sie das anwesende Publikum in Gelächter ausbrechen. Der Mission „Science-Slam“ des honduranischen Mädchens war vollständig ,,Posiible“. Jiessel steht mit einem breiten Grinsen auf der Bühne und hält den Pokal des drittbesten Gewinners unter dem riesigen Applaus. Ich sitze in der ersten Reihe und schwenke auch meine Hand wie ein treuer Fan. Dieses Mädchen ist wirklich aus einem anderen Metall gemacht.

Frühmorgens bin ich bereits bei der Arbeit. „Hast du schon es gehört?“ Bei Karins Frage legte ich das Notizbuch auf den Tisch und schaute neugierig nach. Karin und ich arbeiten im selben Labor. „Kennst du das Mädchen namens Jiessel?“ Ich sage zu mir: „Gibt es aber Zweifel?“. Ich sagte aber doch laut, „Sie hat wieder einen Preis gewonnen, richtig?“. Karin zögert und sagt ruhig, „Nein, Jiessel ist nicht mehr! Das ist erst gestern Abend passiert. Lungenembolie. Leider konnte sie nicht gerettet werden.“

Ich war fassungslos und schockiert. Als Biologiestudent braucht man mir nicht zu erklären, was eine Lungenembolie bedeutet. Jiessel hörte auf zu atmen, indem ihre Lungen verklumpte. Als ich die Nachricht hörte, schnappte ich nach Luft. So ein fröhliches, lebhaftes Mädchen ist so einfach plötzlich gestorben? Ich kann es nicht glauben. Ich öffne meinen Mund, um mehr zu fragen, aber zuvor schüttelt Karin die Hände: „Ich weiß leider nichts mehr. Ich habe viel zu tun. Ich muss jetzt gehen.“

Ein lebender Mensch ist sehr nützlich, kann forschen und alles tun. Aber wenn er stirbt, verwandelt er sich in ein sehr unnötiges lebloses Objekt. Es wird doch nutzlos, darüber zu sprechen. Also zuckt Karin mit den Schultern und entfernt sich, um dem Nonsens auszuweichen. Ich bleibe einfach stehen. Ich habe überhaupt nicht bemerkt, dass das Notizbuch unter den Tisch heruntergefallen ist. Ich bin so still als hätte ein Blitz mich getroffen!

Aber nein. Jiessel ging nicht einfach. Sie liegt verpackt mit gefalteten Händen im Leichenschauhaus des Krankenhauses. Ihr Heimatreise ist verlegt. Ein Sarg von Deutschland nach Honduras kostet viel, etwa zehntausend Euro. In der bengalischen Währung sind es Millionen. Ausländische Studierende haben nicht so viel Geld auf ihrem Konto. Ich habe gehört, dass Jiessel’s Familie auch nicht so reich ist. Sie können ihre Tochter nicht nach Hause bringen, obwohl sie es wollen. Der Rest hängt jetzt von diesem Helmholtz-Forschungszentrum. Aber ihr Schweigen war kein Zeichen der Zustimmung.

Die Verantwortung lag am Ende auf den Schultern der Laborkollegen. Sie stellen jeden Tag einen Tisch vor der Kantine, um Spenden zu sammeln. Wir selbst geben alles aus unseren Taschen. Ich sehe auch, dass Karin viele Scheinen in die Blechdose geworfen hat.

Nach einer Woche. Mit der Zeit heilt die Wunde. Eines Tages betrete ich eilig das Labor. Karin hält mich an. „Jiessel’s Flug ist heute“. Sie zuckt wie immer mit den Schultern und geht. Sofort drängt das Geräusch des Flugzeugs an meine Ohren. Ich laufe zum Fenster. Eine bizarre Erregung hat mich überwältigt. Nein, ich brauche frische Luft.

Ich sitze auf einer Seite des großen Feldes am Campus. Die Laute der frischen Luft kommen in mein Ohr. Ich kann trotzdem nicht voll atmen, als wenn die Luft nicht genug wäre. Einige Flugzeuge sind am Himmel. Wer weiß, mit welchem Jiessel in Ihr Land zurückkehrt. Ah, lass das Mädchen nach Hause gehen, auch wenn es im Sarg ist.

Ich blicke vom Blau des Himmels herunter und sah das Grün des Grases. Plötzlich erschien das Gras mit weichem Schnee bedeckt zu sein. Es wirkt wie ein vages Bild. Als ob Jiessel mit ihrem roten Schal die Schneeflocke zertrampelt. Und ihr ausgelassenes Lächeln breitet sich langsam überall aus, wie eine Welle.

Autorin: Postdoktorandin; Fakultät für Medizin, TU München