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Kein Gesicht

Maya Helget

Ein Mann, Mitte 40, verheiratet. Er ist aus einer mittelalterlichen Stadt mit einer Burg obenan und einer Stadtmauer ringsum. Seine Frau kommt aus der Großstadt. In einem Ort, der nur aus einer Landstraße, einer Kirche, einer Schule und wenigen Häuschen besteht, in den sich normalerweise nur Prostituierte, Nomaden oder Tramper verlaufen, gabelt er uns auf. Zwei jugendliche Tramper hat er bereits in seiner Familienkarre dabei: einer um die 14, der andere um die 17 Jahre alt. Der Kindersitz, der die beiden auf dem Rücksitz voneinander trennte, wird kurzerhand in den geräumigen Kofferraum gepackt, um uns Platz zu verschaffen. Wir fahren los. Meine Freundin auf dem Beifahrersitz und ich zwischen den beiden Jungs. Ein beißender Geruch steigt mir in die Nase. Einem der Jungen heftet er an. Sie beäugen uns schüchtern. Wir beginnen ein Gespräch mit dem Fahrer. Sein Englisch ist wunderbar, er spricht leise und ruhig, ja fast traurig, melancholisch. Es fällt mir schwer ihn vom Rücksitz aus zu verstehen. Wir erzählen davon, dass wir an diesem Wochenende gerne das Land erkunden wollen und außerdem unsere Freunde besuchen möchten, einen Georgier und einen Franzosen. Er, indes, berichtet von seinen Reisen: in Amerika sei er lange gewesen, besonders auch in Südamerika. Ich schäme mich ein wenig, dass seine geografischen Angaben zumeist völlig unbekannte Variablen für uns sind. Er berichtet aus Chile, Argentinien. Ganz so, als wäre er in diesem Moment dort. Er scheint uns und seine Gegenwart völlig zu vergessen. Oder kommt es mir nur so vor, weil ich ihn von meiner Position aus nicht wirklich sehen kann? Er kommt aufs Gebirge zu sprechen, stets habe ich das Gefühl, er hofft auf ein erlösendes Wort von uns, so dass er endlich aufhören kann zu berichten. Doch da wir aufgrund unserer Unkenntnis keine guten Zuhörer sind nicken wir nur stets beklommen und geben Laute der Achtung von uns. Ich fühle seine Enttäuschung. Für ihn sind diese Erinnerungen lebendig, für uns nur leere Worte. Er sehnt sich danach verstanden zu werden, seine Bilder, Sinneserfahrungen, Gefühle mitzuteilen, doch es ist hoffnungslos. Endlich akzeptiert er unsere Unbetroffenheit. Eine Ewigkeit war vergangen. Er spricht weiter, fragt uns aus. Er sagt, dass er nichts bereut. Seine Stimme ist freundlich, aber dennoch unzweifelhaft melancholisch. Macht er sich selbst etwas vor?  Während die Minuten hinfort schweben, lernen wir ihn kennen. Er macht mich neugierig, ich versuche durch den Innenspiegel des Autos sein Gesicht auszumachen. Mein Blick mustert diese Gestalt, doch nie bekomme ich ihn richtig erfasst, stets nur Linien, Formen, Bewegungen. Ein Haarschopf, eine Stimme ohne Mund. Es ist eine aussichtslose Situation. Nur seine Augen und das winzige Rechteck, das der Spiegel mir eröffnet, geben mir eine Idee dieses Menschen. Gelten Augen auch sonst als Spiegel der Seele, so muss ich zugeben, dass mir seine Augen nicht in Erinnerung geblieben sind. Ihm lag die Seele auf der Zunge, in seiner Stimme, dieser traurig-hoffnungsvollen, leisen Stimme. Er erklärt uns ergeben, dass seine Frau unglücklich ist in diesem Land. Sie möchte nach Amerika gehen. Er hingegen hat sein Zuhause nach vielen Reisen gefunden, hier in diesem, in seinem Land. Als er uns an einer Kreuzung hinauslässt, schaue ich ihn nicht an.

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