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Forum Geschichte

Pinke Bäume

Der Frühling war gekommen, die Hügel waren grün, es blühten weiße und pinke Bäume. Zwischen den Dörfern hausten Zigeuner nahe der Zugschienen, sie sammelten und jagten in ihrer Wildnis, wie eh und je. Die Kinder sausten manchmal neben dem Zug her. Es war ihnen leicht möglich eine Weile mitzuhalten, denn der Zug fuhr oft nicht schneller als 10 Kilometer pro Stunde. Viele Leute in Rumänien machten sich über die Langsamkeit der Züge lustig, oft bevorzugten sie es mit Minibussen zu reisen oder zu trampen, um schneller ans Ziel zu kommen. Die Vögel waren vergnügt und bauten fleißig Nester.

Auch Mischko und Anton bauten sich Nester: Nester aus Müll in ihrem Zugabteil. Natürlich würden sie ihn wieder mitnehmen, denn sie waren modern und umweltbewusst. Doch das wussten die anderen Fahrgäste nicht und so waren den beiden die unheilvollen Verwünschungen der anderen gesichert. Die Unverfrorenheit der beiden hatte zwei weitere rumänische Fahrgäste, die in ihrem Abteil gesessen hatten, dazu gebracht, erschüttert unter Flüchen dasselbige verlassen: sie konnten die beiden Ausländer nicht mehr ertragen. Der Müll, der Lärm, die Piercings, die Hände. Genug. Die europäischen jungen Männer hingegen hatten diebische Freude beim Verteilen der Bierflaschen, der Kekstüten und der Sandwichverpackungen im Abteil. Und es amüsierte sie, dass man schlecht über sie dachte und wegen ihnen sogar das Zugabteil wechselte. Gut so, dachte Anton bei sich. Diese alten Leutchen müssen endlich aus ihren verstaubten Dogmen befreit werden. Schock ist dazu bestens geeignet.

Der Zug bahnte sich Stunde um Stunde seinen Weg durch Rumänien. Weder Laszlo, noch Eugenia, noch Anton und Mischko waren bereits an ihrer Zielhaltestelle angelangt. Das Abteil roch nach Bier und Mensch. Die Sonne war schwächer geworden. Der Wind sauste in einer leichten Brise durch den Spalt des Zugfensters herein. Die Zeit verging.

Anton fühlte sich jetzt wie erschlagen. Das Bier und der zuvor getrunkene Schnaps breiteten sich in seinem Kopf aus wie eine große, flache Matte aus reiner Watte, bei deren Vorstellung Anton unwillkürlich mit den Zähnen knirschen musste. „Watte…“, murmelte er und beobachtete die Schafe auf den Hügeln. Er suchte vergeblich nach dem Schäfer. Wo war er nur? Warum passte denn niemand auf die Schafe auf? Sie brauchten doch jemanden, dumm wie sie waren. „Watte…“, murmelte er wieder. Plötzlich wurde er schlagartig wach: dieser krasse Kontrast zu der pastellfarbenen Umgebung! Dieser krasse Kontrast! Gewaltiges Fell erhob sich. Dort lief ein Bär neben dem Zug her! Und er sieht klein aus, wie ein Baby… Ist es denn zu glauben, fragte sich Anton. Der Zug folgte jetzt einer Abzweigung, die in den Wald hineinfuhr. Es schien als seien sie von den Schienen abgekommen, doch der Zug atmete und schnaubte weiter in regelmäßigen Zügen. Es wurde dunkler. Anton spürte ein nervöses Kribbeln hinter seinem Brustkorb und ohne weitere Abwägung rannte er in den Gang des Zuges, riss die Türen auf und sprang vom Zug ab, der jetzt so langsam fuhr, dass dies für ihn sehr einfach war. Seine Abenteuerlust war übermächtig. Er spürte seine extreme Betrunkenheit deutlich. Sein Freund Mischko bekam nichts mit, er war eingeschlafen. Anton würde ihn später anrufen und sie könnten sich direkt in der Stadt treffen. Schließlich lebte man in Zeiten von Mobiltelefonen. Alles kein Problem, solch eine Chance gibt es nur einmal, dachte Anton. Vielleicht schaffte er es sogar gleich wieder auf den Zug aufzuspringen, so langsam wie dieser war. Oder er trampte dann eben.

Jemand hatte gesehen, dass Anton vom Zug gesprungen war: Eugenia, die Frau mit den knackenden Fingern und Laszlo, der liebesleidende Mann sahen genau, was Anton tat. Ihre Blicke kreuzten sich allesamt, doch allen Dreien erschien dies wie in einem Traum. Sie waren so in sich selbst versunken und hatten so wenig Verständnis füreinander. Laszlo dachte nur an sein gebrochenes Herz, er schwamm in Selbstmitleid und Reue und Eugenia wollte einfach keine Verantwortung übernehmen. Wenn schon nicht für ihren Sohn, dann bestimmt auch nicht für irgendeinen Fremden, auch wenn sie ihn sympathisch fand. Anton zwinkerte ihnen zu, er war sich seines Glückes bewusst. Nun rannte er in den Wald hinein. Er wollte den Babybären wie den Straßenhund, den er am Morgen getroffen hatte, anfassen und sich eine unvergessliche Erinnerung sichern. Er hatte alle Chancen nutzen wollen, die ihm auf dieser Reise begegnen sollten. Das hatten er und Mischko sich feierlich geschworen. Vor dem Philosophiestudium in Slowenien wollte er Leben erfahren. Reisen. Das hatte er allen stolz erzählt. Und so waren er und Mischko kurzerhand losgereist, von einem Tag auf den anderen, fast ohne Geld. Sie hatten durch die Balkanländer reisen wollen und hatten sich keine speziellen Erkundigungen über einzelne Länder eingeholt. Traditionen, Flora und Fauna, Gefahren waren ihnen unbekannt. Schade, dass Mischko geschlafen hatte.

Eine Stunde später war Mischko neben dem immer noch angespannten Laszlo im Abteil aufgewacht. Anton war nicht da und auch die jüngere Frau, die ihn und Anton zuvor freundlich angesehen hatte, war nicht im Abteil zu sehen. Er spürte ein starkes Stechen in der Blase und wollte die Toilette aufsuchen. Dort traf er auf die jüngere Frau, Eugenia, die eine Bierflasche in der Hand hielt und ihn überrascht von ihrem Stehplatz am Toilettenfenster anstarrte. Zunächst kniff Eugenia misstrauisch die Augen zusammen, wie ein lauerndes Tier. Doch plötzlich hatten beide gelacht und Mischko hatte wortlos eine Flasche Whiskey aus dem Abteil geholt. Bevor er aus der Tür ging, hielt er noch einmal inne und bot Laszlo die Flasche an. Vielleicht könnte er es gebrauchen, so erbärmlich, wie er aussah. Dieser aber lehnte angewidert ab.

Nachdem Mischko und Eugenia beide einen großen Schluck von dem Whiskey getrunken hatten, erzählte Eugenia in gebrochenem Englisch, dass Anton nur einen kurzen Zwischenstopp eingelegt hatte. Mischko war erleichtert. Anton war schon immer abenteuerlustig gewesen, solche spontanen Alleingänge kannte er schon von ihm. Er gab sich also beruhigt dem Rausch mit Eugenia hin. Paradiesische Bilder zogen an ihnen vorüber, währen der Zug weiter vor sich hin scharrte. Dass diese paradiesischen Bilder nur in ihrem Kopf existierten und sie dafür eines Tages bezahlen mussten, daran dachten sie gerade nicht. Laszlo, der liebesleidende Passagier, hörte am nächsten Tag eine geschwätzige, alte Dame vor der Kirche von dem Unglück berichten. Welch eine Tragödie! Welch ein Leid! hörte er die fromme Frau ausrufen. Laszlo wusste, dass er anderer Meinung war. Anton hatte den Bären gefunden. Seine tödliche Tatze hatte ihn in Sekundenschnelle erwischt.  Nein, nein, Anton war kein Leid geschehen, dachte Laszlo bitter. Nichts war schlimmer als sein eigenes Leid, das Leid der unerfüllten Liebe. Er machte sich bereit für seine letzte Chance bei der Orgelspielerin.