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Artikel Integration

SELEKTdarisch Herausforderungen meistern?

Lehrstück Ukraine

Serge Palasie

Wie unbürokratisch Willkommenskultur aussehen kann, erleben wir gerade jetzt.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind Millionen Ukrainer*innen auf der Flucht. Viele von ihnen verlassen dabei ihr Heimatland. Die EU hindert diese Menschen nicht daran die EU-Außengrenzen zu überschreiten. Sowohl offizielle Strukturen als auch unzählige Bürger*innen – auch bei uns in Deutschland – tun viel, dass diese Menschen schnellstmöglich wieder ein gewisses Maß an Normalität erfahren können. Dazu gehört das unbürokratische Ausstellen von Aufenthaltspapieren genauso wie das Ermöglichen eines Zugangs zu Wohnraum, Arbeit oder Bildung. All das gönne ich diesen Menschen unbedingt.

Wenn das nur immer so wäre…

Wir müssen nur wenige Monate zurückgehen – konkret zur EU-Außengrenze zwischen Belarus und Polen im Spätjahr 2021: Bei Minusgraden versuchten in Belarus gestrandete Menschen, instrumentalisiert von Lukaschenko, in die EU zu gelangen. Die Bilder von Push Backs, die durch die Medien gingen, glichen einer Bankrotterklärung der EU und ihrer proklamierten moralischen Überlegenheit gegenüber Dritten. Zur selben Zeit fanden übrigens die ganzen Sankt Martinsumzüge statt. Selbst war ich Laternenträger bei einem Zug der Schule meiner Kinder. Als ich da stand, schon nach einer Stunde fror und das Schauspiel verfolgte, wie Sankt Martin seinen Mantel teilte, um eine Hälfte dem Schutzsuchenden zu geben, dachte ich an die Situation an unserer Außengrenze mit Belarus. Da gab es nicht mal einen Schnipsel des Mantels. Vor dem Hintergrund kam mir das ganze Schauspiel ritualisierter Solidarität absurd vor. Einerseits feierten Eltern die selbstlose Solidarität Sankt Martins, während sie aber möglicherweise andererseits zeitgleich achselzuckend bis empathielos auf die Unterlassungen seitens der EU an der Grenze zu Belarus blickten. Das ist fatal. Wie sollen unsere Kinder da echte Solidarität lernen? Wo war da der Unterschied zu den aktuellen Fluchtbewegungen aus der Ukraine – abgesehen davon, dass die Menschen nicht einem Krieg aus unmittelbarer Nachbarschaft zu Europa, sondern kriegerischen oder kriegsähnlichen Auseinandersetzungen anderswo – etwa aus Afghanistan – entfliehen wollten? Kurz: Sie waren keine weißen Christen. Ja, das klingt jetzt hart. Aber der Blick auf vergangene Flucht- und Migrationsbewegungen nicht erst seit 2015 lässt kaum eine andere Schlussfolgerung zu. Kein relativierendes pseudo-intellektuelles „Ja, aber…“ macht es besser.

Serge-Palasie©SP
Serge Palasie

Und auch jetzt erlebten wir wieder eine selektive Solidarität…

…auch wenn keinesfalls unterschlagen werden soll, dass wir 2015/16 auch schon zeitweise eine bemerkenswerte Willkommenskultur erlebten. Schwarze bzw. nicht weiße Menschen, die dem Krieg in der Ukraine entfliehen wollen, kommen in der Regel nicht so einfach über die Grenze. Oft werden sie von unseren Außengrenzenwächter*innen gestoppt. Und wenn es doch gelingt, stranden sie in den Zielländern wie etwa Deutschland. Weder das Ausstellen von Aufenthaltspapieren, noch der Zugang zu Wohnraum, Arbeit und Bildung gestaltet sich bei ihnen unbürokratisch. Ich will den zahllosen Menschen, die gerade die Ukrainer*innen in ihrer Not unterstützen, nicht vor den Kopf stoßen – ihr Engagement ist begrüßenswert, aber als negativ von Rassismus betroffene Person muss ich ganz klar sagen: Wenn Hautfarbe den Anspruch auf Solidarität mindert, dann haben wir ein Problem. Sicherlich ist vielen Menschen nicht bewusst, dass unser Gefangensein im „Farbgefängnis“ mit dafür verantwortlich ist, dass wir den Anspruch auf unsere Solidarität hierarchisieren. Maßgeblich verantwortlich hierfür sind nach wie vor verbreitete Narrative in Medien, Politik und Gesellschaft, die mehr oder weniger bewusst Stereotype reproduzieren und somit eine in kolonialen Zeiten bewusst entlang konstruierter Hautfarben erschaffene Distanz aufrechterhalten. Ein solch verengtes und selektives Solidaritätsverständnis müssten wir eigentlich Selektdarität nennen. Echte Solidarität hierarchisiert bedingungslos nach der jeweiligen Bedürftigkeit, nicht aber nach Hautfarbe, Geschlecht, Religionszugehörigkeit und dergleichen. Hier müssen wir umsteuern. Exklusive Solidarität verursacht Diskriminierung als Kollateralschaden. Nicht „nur“ moralisch sollten wir dies als Gesellschaft nicht in Kauf nehmen. Wer einer Form von Diskriminierung – egal welcher – gleichgültig begegnet, lässt das Tor sperrangelweit offen für jede weitere denkbare Form von Diskriminierung, die auch sie oder ihn früher oder später negativ treffen kann. Und solange wir Diskriminierung nicht systematisch begegnen, egal ob wir gerade von ihr persönlich betroffen sind oder nicht bzw. uns mit den Betroffenen verbunden fühlen oder nicht, solange keimen immer wieder Konflikte in oder zwischen Gesellschaften auf, die durch die Existenz von Rassismus, Klassismus, Sexismus etc. erheblich befeuert werden können. Wenn wir eine lebenswertere Welt für alle schaffen wollen, brauchen wir echte Solidarität. Daran führt kein Weg vorbei. Nur so können wir künftigen Kriegen, Pandemien oder globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel nachhaltig die Stirn bieten.

Glücklicherweise sind seit Beginn der Krise viele Initiativen entstanden, die erwähnter Zwei-Klassen-Solidarität entschieden entgegentreten. Ob selbst negativ von Rassismus betroffen oder nicht – sie organisieren die Evakuierung rassifizierter Geflüchteter aus der Ukraine oder unterstützen diese in den jeweiligen Zielländern. Dieses Engagement verdient gesamtgesellschaftlichen Respekt.