Gergana Ghanbarian-Baleva
Bonn am Rhein, davon hörte ich zum ersten Mal in der dritten Klasse, als ein neue Schülerin zu uns in die Klasse kam, sie hieß Antonia. Ihre Eltern hatten bis dahin als Diplomaten an der bulgarischen Botschaft in Westdeutschland gearbeitet. In der Hauptstadt Bonn. Diese Informationen verwirrten mich sehr, denn ich kannte bis dahin nur eine deutsche Hauptstadt, Berlin.
Ich kam selbst vor drei Jahren mit meinen Eltern aus Potsdam zurück nach Sofia. Der wesentliche Unterschied zu Antonias Eltern war der, dass nur meine Mutter in Deutschland arbeitete und zwar in einer Apfelsaftfabrik. Ich wusste, dass es eine DDR und eine schrecklich, bösen BRD gab. Mehr aber auch nicht. Ach ja, auch von der Mauer wusste ich. Und nur weil wir donnerstags zur bulgarischen Schule nach Berlin fuhren, und die S-Bahn irgendwann vor der Mauer hielt, weiter gings nicht. Von dort aus sah ich die vergoldete Statue an der Spitze der Siegessäule, und sie schien mir unerreichbar. Aber von Bonn am Rhein hatte ich noch nie etwas gehört.
Antonia brachte regelmäßig Werbeprospekte, vor allem von Einrichtungshäusern und Otto-Kataloge mit in den langweiligen Unterricht. Sie erzählte uns wie schön Bonn war und wie toll die Brücken über den Rhein gewesen seien und veranschaulichte den Rest anhand der Katalog- und Prospektbildern.
Bonn schien mir ein paradiesischer Ort zu sein. Und er kam mir genau so glänzend, edel, unerreichbar und anziehend wie die Siegessäule vor. Diese andere, unbekannte deutsche Hauptstadt bestand in meinen Vorstellungen aus teure Ledersitzgarnituren, üppige Vorhänge, bunte Teppiche, hochmoderne Einbauküchen, Levis-Jeans, Haushaltskittel, wohlriechende Kosmetika, Nivea Creme und schöne, gesunde, wohlernährte, glückliche Menschen.
Antonia war die Verkörperung dieser Stadt und das Lebens am Rhein. Mit ihrer adretten, viel zu hellen, westlichen Kleidung im Vergleich zu unseren dunkelblauen, müffelnden Uniformen und den präzisen Haarschnitt ihrer blonden, glatten Haaren, unterschied sie sich auffallend von der gesamten 1b.
Nun sind seit meiner Grundschulzeit mehrere Jahre vergangen. Wo Antonia heute leben mag, weiß ich nicht. Aber mich hat der Zufall ausgerechnet nach Bonn verschlagen, mitten im Westen. Sogar vor der bulgarischen Botschaft stand ich einmal und dachte „Mensch, das kann doch nicht wahr sein, hier also lebte Antonia damals mit ihren Eltern!“.
Es ist erstaunlich was ich so sonst außer wohlernährte auf Ausflugsschiffe konsumierenden Menschen entlang des Rheins noch entdeckt habe. Zum Beispiel sah ich vor kurzem auf einigen schwarz weiß Fotografien in einer Ausstellung über den Rhein, dass es Nazi-Massenkundgebungen am Bonner Rheinufer im Jahr 1933 gab. Nur Menschenhände zum Hitlergruß erhoben und Wasser, sonst nichts zu sehen. Auch Hochwasser, das wenig glänzend und freudig für die Bewohner in Bonn war gab es.
Dazu gesellen sich riesige Handelsschiffe, die Kohle in Richtung Rotterdam transportieren. Herden japanischer Touristen, die die betrunkenen morgens beim Rosenmontagszug bestaunten und mit ihren Kameras festhalten. Hässliche Häuser und Hotels, wie das Continental am Hauptbahnhof und Bertha-von-Suttner-Platz gibt es hier. Und Bettler am Straßenrand mir erstaunlich gut gepflegten Hunden sind anzutreffen. Heute mittendrin in dieser Utopie aus meiner Kindheit angekommen, vermischen sich Bilder aus Werbebroschüren und Kataloge, die meine Tochter als Müll bezeichnet und direkt in der Papiertonne wirft, ohne auch einen, einzigen Blick darauf geworfen zu haben, mit der Realität und den sumpfigen Geruch, den ich entlang der Rheinpromenade einatme und werden zu Heimat.