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Koloniale Kontinuitäten im „Decolonize-Hype“

Serge Palasie

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Seit einigen Jahren ist die Befassung mit dem deutschen Kolonialismus auf dem Vormarsch. Neben negativ von Rassismus betroffenen Menschen und ihren weißen Mitstreiter*innen, die sich schon länger für eine Aufarbeitung vernachlässigter Kapitel deutscher Geschichte und einen neuen Umgang mit kolonialen Kontinuitäten einschließlich kolonialbelasteter Sprache stark gemacht hatten, kamen – spätestens mit der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd 2020 durch einen weißen Polizisten in den USA – viele neue Akteur*innen in der Gesellschaft hinzu, die sich mit Kolonialismus und seinem Erbe befassen. Dies hatte zur Folge, dass Bildungseinrichtungen, Kommunen, Wohlfahrtsverbände, Vertreter*innen der Wirtschaft etc. beispielsweise verstärkt externe Expert*innen einluden und dies noch immer tun, um den Themenkomplex in Vortragsveranstaltungen, Tagesseminaren oder aber längeren Fortbildungen zu behandeln. Auch initiieren sie zunehmend eigene Projekte in dem Bereich. Förderinstitutionen stellen zunehmend Gelder bereit. Das alles ist erst einmal begrüßenswert. Denn diese Entwicklung sorgt(e) auch dafür, dass Themen wie die Rückgabe von Raubgütern und menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten, die Umbenennung von Erinnerungsorten, die zum Beispiel Kolonialverbrecher ehren oder aber auch der alltägliche strukturelle Rassismus in breiteren Bevölkerungskreisen diskutiert werden.

Deutungshoheit first, Bedenken second…*

Trotz all dieser Fortschritte sollten wir aber nicht die kolonialen Kontinuitäten im „Decolonize-Hype“ übersehen. Allein die Fragen, wer bestimmt, was zu dekolonisieren ist und was nicht, welche Kritik angenommen wird und welche nicht, welche Begriffe als kolonial-rassistische geprägt anerkannt werden und welche nicht oder wie lange das „Projekt Dekolonisierung“ zu gehen hat – das alles wird unter dem Strich noch viel zu oft von der weißen Dominanzgesellschaft bestimmt. An der historisch gewachsenen Deutungshoheit wollen die wenigsten ernsthaft rütteln. Und indem man*frau sich den Dekolonisierungsdiskurs aneignet, kann beeinflusst werden, wie der Prozess gestaltet wird. Das umso mehr, weil Ressourcen – von Finanzmitteln bis zu Einflussmöglichkeiten auf den öffentlichen Diskurs – auch historisch bedingt ungleich verteilt sind. Das zeigt sich etwa in Relativierungen, wenn es um den Umgang mit Gedenkorten geht: Straßennamen oder Denkmäler, die Kolonialverbrechern und -unterstützern gewidmet sind, werden oft mit dem Verweis, dass es sich dabei doch um Teile der deutschen Geschichte handelt, die nicht einfach per Dekret ausgelöscht werden könnten, letztlich verteidigt. Den Engagierten wird dabei häufig unterstellt, dass ihre Forderungen mit Demokratie nicht vereinbar seien. Ihr Standpunkt wird bewusst diskreditiert.

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Serge Palasie ©SP

Wenn aber Politik durch den Verweis auf demokratische und oftmals durch Verantwortungsdiffusion gekennzeichnete bürokratische Prozesse, die für das Umbenennen nun einmal nötig seien, dem weiteren Gedenken an Antidemokraten und Kolonialisten im Ergebnis Vorschub leistet, dann haben wir schon ein Vermittlungs- und Glaubwürdigkeitsproblem. Das sollten wir nicht „nur“ als Schlag ins Gesicht der Opfer des kolonialen Erbes, sondern ins Gesicht aller Menschen verstehen, die Opfer nicht mit zweierlei Maß bewerten wollen. Denn auch der Nationalsozialismus und der Kommunismus sind Teil unserer Geschichte. Dennoch suchen wir entsprechende Gedenkorte vergeblich – Ausnahmen bestätigen die Regel. Gut, nach dem Zweiten Weltkrieg waren wir die Verlierer*innen. Die Entnazifizierung des öffentlichen Raums wurde von den Siegern verordnet. Dass dies nicht mit einer Dekolonisierung einherging, lag daran, dass die Siegermächte selbst Kolonial- und Imperialmächte waren. Hier sahen also weder die Kriegsverlierer*innen noch -gewinner*innen Handlungsbedarf. Es brauchte weder einen gesellschaftlichen Diskurs für die Entnazifizierung, noch für die Beibehaltung kolonial-belasteter Erinnerungsorte. Anders nach dem Ende der DDR: Nachdem der „Westen“ den Systemkampf gewonnen hatte, war es nicht schwer, einen breiteren Diskurs anzuregen, um die Legitimation für das Umbenennen oder Entfernen von kommunistisch-sozialistischen Gedenkorten – trotz Kontroversen in Teilen der Bevölkerung – quasi auch „von unten“ zu bekommen. So eine gezielte Anregung eines breiteren gesellschaftlichen Diskurses sehen wir in Bezug auf Erinnerungsorte mit Kolonialbezug nicht. Letzteres wäre aber nötig, um die Akzeptanz für solche Dekolonisierungsprozesse zu steigern. Wenn ich nicht weiß, welchem Verbrecher die Straße gewidmet ist, in der ich wohne bzw. mir die Politik Rückendeckung bei einer Geschichtsvergessenheit gibt, die unter anderem durch unser Bildungssystem ständig reproduziert wird, bin ich wohl eher nicht an einer Änderung der Situation interessiert – und sehe stattdessen vor allem die Unannehmlichkeiten rund um die Adressänderung, die sich aus einer Umbenennung ergeben würden.

Geschichte löschen will übrigens niemand, die*der die Erinnerung an den Kolonialismus wachhalten will. Es geht um die Frage der Perspektive: Wollen wir eine Straße einem Verbrecher widmen oder denjenigen, die Widerstand leisteten oder zu Opfern wurden?

Aber auch was das Wording angeht, ist die Verteidigung von Deutungshoheit unübersehbar: Neben Worten, bei denen es mittlerweile auch für (noch immer nicht alle) Status-quo-Wahrer*innen relativ klar ist, dass diese eindeutig kolonial-rassistisch sind – wie etwa das „N-Wort“ – werden Begriffe und die sich dahinter verbergenden Konzepte wie zum Beispiel „Entwicklung“ weiter unreflektiert reproduziert. Dabei wird übersehen, dass der moderne Entwicklungsbegriff, der ökonomisches Wachstum fokussiert und soziale sowie ökologische Verwerfungen regelmäßig in Kauf nimmt, maßgeblich auf Logiken zurückzuführen ist, die im Kolonialismus ihre Wurzeln haben.

Platz_an_der-Sonne
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Reflektieren ersetzt Handeln langfristig nicht

Reflektieren ist gut, aber kein Selbstzweck. Die Gefahr, die im geschilderten, grundsätzlich begrüßenswerten Prozess liegt: Die Halbherzigkeit bei der Dekolonisierung erwähnter Bereiche führt schon jetzt dazu, dass sie von denen, die wirklich einen Wandel wollen, als Versuch gewertet wird, den auf kolonialen Umverteilungsprozessen beruhenden Status quo trotz gegenteiliger Rhetorik möglichst zu wahren. Wenn sich dieser Verdacht erhärtet, kann weiteres Vertrauen in einem historisch vorbelasteten Verhältnis verloren gehen – in einem demografisch immer diverseren Deutschland zunehmend eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wenn wir das nicht riskieren wollen, müssen strukturell in diesem Kontext Privilegierte noch stärker reflektieren, wo Macht – auch Deutungsmacht – noch immer konzentriert ist und bereit sein über kosmetische Maßnahmen hinaus aktiv zu werden. Das hat auch mit der Diversität der eigenen Struktur zu tun: Eine Organisation kann das x-te Antirassismus-Seminar besucht haben. Wenn sie theoretisch weiß, was zu tun wäre, aber die eigenen Strukturen so bleiben wie sie sind und nicht die gesellschaftliche Vielfalt abbilden, dann ist vielleicht eine Organisation, die solche Seminare nicht besucht hat, aber divers aufgestellt ist, weiter. Da sind dann viele kleine Betriebe, Begegnungszentren etc. weiter als unsere Landesparlamente und der Bundestag. Denn es reicht nicht, intern oder sogar öffentlich über Ungleichheit und die eigenen Privilegien zu sprechen, aber schlussendlich keine Konsequenzen daraus zu ziehen. Eine hastige „Alibi-Pigmentierung“, um Diversity vorzugaukeln, macht es nicht besser.

Die erwähnten Bereiche sind nur die sichtbare Spitze des Eisbergs kolonialer Kontinuitäten, die wir sehen. Und selbst die wird regelmäßig mit Nebelkerzen möglichst unsichtbar gemacht. Über makroökonomische und -ökologische sowie sicherheitspolitische Aspekte haben wir noch gar nicht gesprochen. Wenn also die nächsten Jahre im Bereich der Eisbergspitze keine ehrlichen Anstrengungen unternommen werden, um tatsächlich voranzukommen, darf bezweifelt werden, dass der weitaus größere Teil des Eisbergs unter der Wasseroberfläche überhaupt Gegenstand einer proklamierten Dekolonisierung wird. Das ehrliche Engagement vieler Menschen auch aus der Dominanzgesellschaft, die unter Dekolonisierung einen echten Prozess und nicht ein Projekt verstehen, soll gar nicht in Abrede gestellt werden. Die bisherigen Erfolge sollen gar nicht kleingeredet werden. Aber noch ist es zu früh, um naiv optimistisch zu sein.