Kolonialismus in der Erinnerung
Serge Palasie
Wenn wir uns mit unserer Geschichte befassen, sollten wir wissen, dass ein gesellschaftliches „Wir“ immer ein dynamischer Begriff ist. Die Antwort auf die Frage, wer als integraler Bestandteil von diesem „Wir“ betrachtet wird und wer nicht, hängt davon ab, wo und von wem diese Frage gestellt wird und ändert sich ständig.
In einer Erinnerungskultur und -politik, die dem dynamischen „Wir“ gerecht werden will, sollte öffentliches Gedenken dazu geeignet sein, das jeweils aktuelle „Wir“ in seiner Gänze abzuholen und ihm Identifizierungsmöglichkeiten zu geben. Das ist ein Prozess und geht nicht von jetzt auf gleich. Aber gelingen kann das nur, wenn der Bereich Erinnerung genauso dynamisch bleibt wie das „Wir“ selbst.
Das kann heißen, dass wir an historische Umverteilungsprozesse – die oft gewaltsam abliefen und auf Kosten anderer jenseits des konstruierten „Wir“ gingen – spätestens dann anders erinnern müssen, wenn sich das „Wir“ etwa aufgrund von demografischen Entwicklungen so verändert hat, dass das Gedenken einen Perspektivwechsel verlangt. Dann wird eine Neubewertung von bestimmten Personen und Ereignissen nötig.
Erinnerung im Kolonialkontext
Auf koloniale Erinnerungskontexte bezogen heißt das: Als sich Europa und andere im Hochimperialismus die Welt endgültig untertan gemacht hatten, war es trotz aller Gegenstimmen, die es auch innerhalb des damaligen „Wir“ gegeben hat, breiter Konsens, dass das, was passierte, gut war. Entsprechend wurden auch Denkmäler eingeweiht und Straßennamen vergeben, die Ereignisse und Menschen gedenken, die damals als positiv angesehen wurden. Damals war die Definition des „Wir“ eine, die ganz offen an phänotypischen, kolonialrassistischen Merkmalen festgemacht wurde – wenngleich es auch damals schon einige Menschen aus den Kolonien in den damaligen kolonialen „Mutterländern“ gab.
Das ist heute anders. Deutschland ist noch nie so wenig ein ethnisch homogenes Land gewesen wie aktuell – wobei es das auch trotz aller Rhetorik nie gewesen ist. Ein wachsender Teil in der Bevölkerung hat persönliche, also familiäre Beziehungen zu Ländern, die Opfer des Imperialismus waren und die zum Teil bis heute durch eine (Wirtschafts- und Sicherheits-) Politik, die den Status quo aufrechterhalten will, benachteiligt werden. Das stark phänotypisch motivierte „Wir“ von gestern muss sich dynamisch in Richtung eines „Wir“ bewegen, in dem andere Kategorien zunehmend bestimmend sind – denn sonst geht Erinnerungspolitik an immer größeren Teilen der Bevölkerung vorbei und verursacht Widerstände, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden können.
Das Beispiel Wilhelm II.
Um das an einem Beispiel festzumachen: Teilweise künstlich erregt diskutieren verschiedene Vertreter*innen aus der Gesellschaft das Für und Wider des Reiterstandbilds Wilhelm des Zweiten auf der Hohenzollernbrücke in Köln. Einige sagen: „Es bringt doch gar nichts, wenn wir ein Denkmal entfernen! Die Geschichte wird so nicht ungeschehen gemacht!“ Das stimmt. Aber es geht nicht darum, dass Geschichte gelöscht wird, sondern ein Perspektivwechsel vollzogen wird, der Resultat von Aushandlungsprozessen verschiedener Gruppen des aktuellen „Wir“ sein muss.
Klar, Personen, an die öffentlich erinnert wird, sind so gut wie nie nur eindimensional, sondern oft komplex und sogar widersprüchlich in ihrem Handeln gewesen. Egal, wo auf der Welt. Sie können einerseits etwas erreicht haben, das von gesamtgesellschaftlichem oder länderübergreifendem Nutzen war und anderseits gewalttätig, sexistisch, rassistisch etc. gewesen sein. Es ist unmöglich, rein objektiv die Leistungen und die problematischen Aspekte einer Person miteinander zu verrechnen, um am Ende sagen zu können: „Bei Person X überwiegt das Gute, also darf weiterhin an sie in der Öffentlichkeit – durch ein Denkmal oder eine Straße – erinnert werden. Bei Person Y überwiegt das Schlechte, also dürfen wir nicht mehr an sie erinnern.“ Das Urteil hängt immer auch stark von der Zusammensetzung des jeweils aktuellen „Wir“ ab. Dieser gesellschaftliche Konsens bzw. Dissens ist am Ende stärker als übergeordnete Moralvorstellungen.
Allerdings gibt es Ausnahmen: Wenn klar ist, dass beispielsweise jemand zu Massenmord aufgerufen hat, sollten übergeordnete Moralvorstellungen über dem Urteil des aktuell dominierenden gesellschaftlichen „Wir“ stehen, das oft in Unkenntnis aller relevanten Zusammenhänge gefällt worden ist. Schuld daran ist die regelmäßige Reproduktion einer selektiven Geschichtsdarstellung etwa durch Teile der Politik inklusive der Bildungspolitik. Wilhelm II. hat 1900 einen Vernichtungsbefehl in Bremerhaven ausgesprochen, als sich die Soldaten für die Niederschlagung des antikolonialen Widerstands in China einschifften, wo neben anderen auch das Deutsche Reich bis zum Ersten Weltkrieg präsent war. In einer Gesellschaft, die Menschenrechte immer wieder betont und Menschenrechtsverletzungen woanders anprangert, ist das in zweifacher Weise problematisch: Nicht jede Total-Entgleisung kann durch „gute Taten“ derselben Person wieder ausgeglichen werden. Neben einer schwindenden Akzeptanz im innergesellschaftlichen Zusammenhang aufgrund eines sich wandelnden „Wir“ kommt hinzu, dass eine solche Erinnerungspolitik auch unserer Glaubwürdigkeit nach außen schadet. Wir sprechen heutzutage etwa berechtigterweise Menschenrechtsverletzungen weltweit an, auch in China. Gleichzeitig ehren wir mit erwähntem Beispiel einen Menschen, dessen Vernichtungsaufruf am Ende mehrere Zehntausend Menschenleben vor Ort kostete. Hier sollten wir Gedenken nicht zu kurz denken.
Denn – wenn auch teilweise unbewusste – Doppelstandards können „gegen uns verwendet“ werden. Wie können wir zur Wahrung von Menschenrechten aufrufen, während wir gleichzeitig Menschen öffentlich gedenken, die diese Rechte massiv verletzten? Wer diesen Widerspruch vor Augen hat, sieht künftig mehr als nur ein Pferd mit Reiter, wenn sie*er über die Hohenzollernbrücke fährt oder geht.
Die zur Vernichtung aufrufende Grenzüberschreitung vonseiten der höchsten politischen Ebene 1900 läutete im Übrigen eine Phase ein, zu der auch unter anderem der durch Deutsche begangene Völkermord an den Ovaherero und Nama im heutigen Namibia zu zählen ist. Und auch das Zustandekommen des Ersten Weltkriegs kann vor dem Hintergrund erwähnter Haltung des Kaisers besser verstanden werden. Allerdings konnten sich Deutschlands Gegner in diesem Fall mit modernen Waffen wehren, was – anders als in den Kolonien – auch zu unzähligen Opfern auf deutscher Seite führte. Die Opfer des Wilhelminischen Zeitalters sind also zahlreich. Ein neues „Wir“ erinnert an sie alle – ohne zu hierarchisieren oder zu relativieren. Dass der Ex-Kaiser nach verlorenem Krieg in seinem niederländischen Exil sozusagen im Stand-By-Modus mit seiner Wiedereinsetzung unter den Nazis rechnete, vervollständigt das Bild einer Person, deren Geltungsdrang keine moralischen Grenzen kannte.
Das Beispiel ist nur ein besonders prominentes. Andere Denkmäler sind ähnlich kritisch zu betrachten. Dabei gilt: Für keines gibt es eine Blaupause, wie damit umgegangen werden soll. Alle müssen einzeln in einem Dialog aller relevanten Akteur*innen in der Gesellschaft immer wieder überprüft werden. Und wenn nötig, muss ein neuer Umgang mit ihnen gefunden werden. Bei einigen reicht ein Hinweisschild mit QR-Code zur besseren geschichtlichen Einordnung, bei anderen reicht das nicht. Das heißt nicht, dass wir künftig alle paar Jahre alle Denkmäler austauschen müssen. Das heißt: Kein Denkmal hat Anspruch auf Ewigkeit, nur, weil es einmal eingeweiht worden ist.