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„Alte Schlange in neuer Haut“

Versklavung und strukturelle Ausbeutung gestern und heute

Serge Palasie, Eine Welt Netz NRW

„…in welcher neuen Haut wird diese alte Schlange daherkommen?“ fragte sich schon der Afroamerikaner Frederick Douglass 1865 anlässlich der Abschaffung des Versklavungssystems in den USA. Heute denken nicht wenige Menschen im Westen noch immer an einen Baumwolle pflückenden Menschen afrikanischer Herkunft, wenn sie das Wort „Sklave“ hören. Filme wie „Amistad“ oder ,,Twelve Years a Slave“ prägen unser Bild von Versklavung. Redewendungen wie „Bin ich Dein N****?“ (Das rassistische N-Wort als Bezeichnung für Schwarze Menschen wollen wir hier nicht reproduzieren), die zum Einsatz kommen, wenn jemand eine geforderte Arbeit nicht tun will, zeigen, wie tief das Bild von „Sklave“ und „Schwarzsein“ in vielen Köpfen noch verankert ist. Und da diese transatlantische Versklavungsökonomie, die den Rassismus und den Westen letztlich überhaupt erst schuf, offiziell vorbei ist, denken nicht wenige Menschen, dass Versklavung heute kaum noch Thema sei.

Aber Versklavung und andere Formen struktureller Ausbeutung existieren auch heute noch – weltweit. Je nach Definition von „moderner“ Sklaverei sind heute 20-50 Millionen Menschen betroffen. Das sind vorsichtige Schätzungen – nicht mehr und nicht weniger. Die Grenzen zwischen struktureller Ausbeutung, die weitaus mehr Menschen betrifft, und „moderner“ Sklaverei sind fließend. Was können wir tun, um dieser ökonomisch motivierten Menschenverachtung zu begegnen?

Strukturelle Ausbeutung inklusive Versklavung gibt es seit dem Bestehen sogenannter Hochkulturen. Wir reden also von gut 10.000 Jahren. Sie sind keine Erfindung des Westens, wenngleich die transatlantische Versklavungswirtschaft in puncto Menschenverachtung nie gekannte Dimensionen erreichte. Heute könnten wir beispielsweise die wenigsten architektonischen Monumente vergangener Kulturen weltweit bestaunen, wenn es nicht schon immer billige oder gar kostenlose Arbeitskräfte gegeben hätte.

Wichtig: Entgegen der verbreiteten Wahrnehmung, die durch die erwähnte transatlantische Versklavungsökonomie geprägt worden ist, waren und sind global gesehen vor allem Frauen und Kinder Opfer struktureller Ausbeutung. Außerdem sind strukturelle Formen der Ausbeutung sehr flexibel und in der Regel eher nicht auf vermeintlich ethnisch definierbare Äußerlichkeiten beschränkt. Und die Form der rechtlich abgesicherten Versklavung, in der Versklavte offizieller Besitz eines / einer Besitzer*in sind, macht heute „nur“ noch geschätzte 10 Prozent aller Formen „moderner“ Versklavung aus. Generell gilt, dass Menschen umso häufiger Opfer struktureller Ausbeutung werden, desto entwurzelter sie sind. Daher sind auch und gerade Geflüchtete besonders betroffen. Ein Blick auf die Erntehelfer*innen in der Landwirtschaft, vor allem der EU-Mittelmeeranrainer wie Spanien und Italien, spricht hier Bände. Aber auch in Deutschland würden ganze Sektoren der Wirtschaft – vom Baugewerbe und der Landwirtschaft über die Fleischindustrie bis hin zum Pflegebereich und anderen körpernahen Dienstleistungen, einschließlich Prostitution – ohne das internationale Heer an billigen Arbeitskräften anders aussehen. In die Aufzählung gehören auch organisiertes Betteln, Zwangsheirat oder auch der internationale Organhandel.

Serge-Palasie©SP

Globalisierte Formen struktureller Ausbeutung folgen immer wieder der gleichen „Logik“: Wo produziere ich am kostengünstigsten? Mit welchen Arbeitskräften? Und wie setze ich die Produkte mit höchstmöglichem Gewinn ab? Unser Massenkonsum wird vielfach durch eine strukturelle globale Ungleichheit ermöglicht, die in Bezug auf die Süd-Nordungleichheit ohne eine koloniale Umverteilungsgeschichte nicht denkbar wäre. Kaffee, Schokolade, Autofahren, Smartphone: Alles wäre teurer, wenn globale Handelsbeziehungen auf Augenhöhe herrschen würden, in deren Rahmen ausbeuterische Arbeitsbedingungen keinen Platz mehr hätten. Zwar hat sich die internationale Staatengemeinschaft zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen bekannt, deren zentrales Ziel es ist, Ungleichheiten innerhalb und zwischen Staaten zu verringern. Ziel 8.7. fordert gar „unmittelbare und effektive Maßnahmen, um Zwangsarbeit … moderne Sklaverei und Menschenschmuggel zu beenden“. Bindend sind sie jedoch kaum.

Wie schnell ökonomische Interessen und moralische Ansprüche miteinander in Konflikt geraten können, veranschaulichte die Debatte in Deutschland um ein Lieferkettengesetz, das Ausbeutung von Mensch und Umwelt entlang globaler Wertschöpfungsketten erheblich reduzieren könnte. Da warnte im Jahr 2020 das Bundeswirtschaftsministerium vor „Schnellschüssen“ und verwies auf die pandemiebedingte ökonomische Rezession. Das bedeutet: Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards? Ja, aber nur, solange es der Wirtschaft nicht schadet. So werden Ungleichheiten im Globalen Süden bzw. Formen struktureller Ausbeutung vor Ort, die zum Teil viel älter sind als das heutige globale Süd-Nordgefälle, für eine globale Wertschöpfungskette aufrechterhalten bzw. ausgebaut. Natürlich gab und gibt es auch Nutznießer vor Ort, aber das große Geld wird woanders gemacht. Solche Strukturen sind längst auch ein wesentlicher Treiber von Flucht und Migration. Immerhin haben wir nun ein „Lieferkettengesetzchen“, ein Anfang ist also gemacht.

Können wir struktureller Ausbeutung einschließlich „moderner“ Sklaverei überhaupt wirkmächtig entgegentreten? Ja, allein schon durch unsere persönlichen Konsumgewohnheiten – je nach verfügbarem Budget und individuellem Willen zur kritischen Selbstreflexion wohlgemerkt. Es macht einen Unterschied, ob ich eine Banane esse bzw. einen Kaffee trinke, für deren bzw. dessen Anbau Menschen nicht ausgebeutet und Umweltstandards nicht missachtet worden sind. Aber reicht das? Nein. Der wachsende Faire Handel, so begrüßenswert er ist, hat in Deutschland zurzeit einen Marktanteil von nur etwa einem Prozent. Und wie oben angerissen, gibt es neben diesen globalen Ausbeutungsstrukturen auch die vor unserer eigenen Haustür. Um eine historisch gewachsene Pfadabhängigkeit zu überwinden, in deren Logik ökonomisches Wachstum über alles andere gestellt wird, ist also noch ein sehr langer Weg zu gehen. Dazu ist aber auch ein Umdenken nötig – von der Kita an. Wie definieren wir gutes Leben? Kann ein möglichst kostengünstiger Konsum von Waren und Dienstleistungen, dessen Kosten andere bezahlen, tatsächlich der Hauptgradmesser für den Erfolg „unserer Art zu leben“ sein? Wie lange können wir die damit verbundenen inner- und zwischengesellschaftlichen Verwerfungen ignorieren? Engagierte Individuen, Vereine, Initiative etc. in Nord und Süd können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, ein Umdenken – auch in Politik und Wirtschaft – zu fördern.

Weiterlesen über das Thema im Artikel im Magazin veröffentlicht von Forum Weltkirche https://www.herder.de/fw/hefte/archiv/2021/4-2021/